Theoretischer Hintergrund
Die Begriffe „Begabung, Begabungs- und Begabtenförderung“ sind an sich umstrittene und nicht eindeutige Begriffe. Begabungen sind weder messbar noch Eigenschaften, die eindeutig wahrnehmbar sind. Im Gegensatz dazu lassen sich beispielsweise Intelligenzwerte bestimmen oder sportliche Performanzen messen.
Nach Müller-Oppliger/Weigand (2021) werden (Hoch-)Begabungen eher als Interpretationen von Sachverhalten verstanden: wenn jemand schneller lernt, komplexe Zusammenhänge schneller versteht oder sich künstlerisch gut ausdrücken kann. Sie zeigen, dass das (Hoch-)Begabungsverständnis von gesellschaftlichen Faktoren und kulturellen Praktiken abhängig ist. Ein hoher Intelligenzwert allein ist noch kein Anzeiger für (Hoch-)Begabung. Hinzu kommen immer verschiedene andere Fähigkeiten, Motive, Persönlichkeitsmerkmale, aber auch Zufälle und Umweltbedingungen, die für Begabungen förderlich sind.
Deutlicher wird der Begriff Begabung, wenn zwischen dem Begabungspotential und der Leistung, die daraus entsteht, unterschieden wird.
Begabung ist ein multidimensionaler Begriff, der durch Sternberg eine international anerkannte Definition erfährt: (Hoch-)Begabung als „Möglichkeit zu Leistungen, die in einem/mehreren Bereichen im Vergleich zu Gleichaltrigen durch Exzellenz, Seltenheit, Produktivität, Demonstrierbarkeit und Werthaftigkeit auffallen. (Sternberg 2005)“ zitiert in Müller-Oppliger/Weigand 2021, S. 12)
Unter Begabungsförderung versteht man die Förderung von Fähigkeiten während sich Begabtenförderung auf einzelne Personen (die besonders begabt erscheinen) bezieht (Oswald/Weilguny 2005, S.34).
Theoretische Modelle der Begabungsforschung
Es besteht eine Vielzahl an theoretischen Modellen, die unterschiedliche Sichtweisen auf das vielschichtige Phänomen der (Hoch-)Begabung ermöglichen. Hier werden drei Modelle ausgewählt, die einander ergänzen und gemeinsam als Grundlage zur Qualitätsbeschreibung von Schule dienen können.
Das Drei-Ringe-Modell von Joseph S. Renzulli
Kreativ-produktive Begabung entsteht vor dem Hintergrund dreier, Merkmale, die in Form sich überlappender Kreise dargestellt wird: Überdurchschnittlicher Fähigkeit (above average ability), Aufgabenmotivation (task commitment) und Kreativität (creativity).
„In Wirklichkeit ist das Drei-Ringe-Konzept das erste systemische Modell, das über die kognitive Einschränkung auf den IQ hinausgeht und die Interaktion von Person und Umwelt darstellt.“ (Müller-Oppliger 2021, S. 201)
Für die Schule bedeutet dies, dass ein Schüler/eine Schülerin mit nachweislich hohen Fähigkeiten nur dann hohe Leistungen erbringen kann, wenn er/sie sich von der Aufgabe gefordert fühlt und die Möglichkeit hat, durch Kreativität an die Lösung heranzugehen. (vgl. Samhaber 2012)
Multiple Intelligenzen nach Howard Gardner
Nach Gardner kann die Intelligenz von Menschen nicht als große Einheit betrachtet werden, deren Größe man in IQ angibt. Sie ist aus verschiedenen Arten von Intelligenz zusammengesetzt. Jeder Mensch verfüge demnach über individuelle Komposition verschiedener Intelligenzen. (vgl. Brunner, E., Gyseler, D., Lienhard, P., 2005, S. 13)
Im schulischen Setting ist dieser Ansatz von Bedeutung, weil nicht es nicht nur um intellektuelle Fähigkeiten geht, die im Unterricht angesprochen werden können.
Howard Gardner unterscheidet vorerst sieben unterschiedliche Intelligenzen:
· Sprachlich-linguistische Intelligenz: die Fähigkeit zu lesen, zu schreiben, zu verstehen und zu sprechen;
· Bildlich-räumliche Intelligenz: die Fähigkeit, sich im Raum zu orientieren;
· Logisch-mathematische Intelligenz: die Fähigkeit zu rechnen, logische Aufgaben zu lösen sowie wissenschaftlich zu denken und zu argumentieren;
· Musikalisch-rhythmische Intelligenz die Fähigkeit zu singen, ein Instrument zu spielen sowie Musik zu analysieren und zu komponieren;
· Körperlich-kinästhetische Intelligenz: die Fähigkeit, seinen Körper koordiniert zu bewegen, etwa bei Tanz und Sport oder auch als Chirurg.
· Interpersonale Intelligenz: die Fähigkeit, verbales und nichtverbales Verhalten anderer zu verstehen und zu interpretieren;
· Intrapersonale Intelligenz: die Fähigkeit, die eigenen Handlungen zu reflektieren und zu verstehen.
Später fügte er noch weitere hinzu:
· Naturalistische Intelligenz: die Fähigkeit, Gegenstände in der natürlichen Umgebung zu erkennen und zu kategorisieren;
· Existenzielle Intelligenz: die Fähigkeit, die eigene Position im Hinblick auf existenzielle Größen der menschlichen Existenz, wie etwa Tod oder der Sinn des Lebens, zu bestimmen.
(Quelle: https://www.123test.com/de/Multiple-Intelligenzen/ Letzter Zugriff: 2.4.2022)
Das Münchner (Hoch-)Begabungsmodell (MHBM)
Das Münchner (Hoch-)Begabungsmodell geht von besonderen Dispositionen aus und bezieht sich dabei auf Gardners „Multiple Intelligenzen“. Kurt Heller, Ernst Hany und Christoph Perleth verstehen Begabung als Potential und als Voraussetzung zum Erbringen von hoher Leistung. Angeborene Begabungsfaktoren wie intellektuelle Fähigkeiten, kreative Fähigkeiten, soziale Kompetenz, praktische Intelligenz, künstlerische Fähigkeiten, Musikalität und Psychomotorik können bei günstigen nicht-kognitiven Persönlichkeitsmerkmalen wie Stressbewältigung, Leistungsmotivation, Arbeits-/Lernstrategien, (Prüfungs-)Angst und Kontrollüberzeugungen und unter der Voraussetzung günstiger sozialer Faktoren wie das familiäre Umfeld, Familienklima, Instruktionsqualität, Klassenklima und kritischer Lebensereignisse in Hochleistungsverhalten umgesetzt werden. (Heller 2001, S. 24)
Nach Friedl (2010) ergänzen sich diese drei Modelle in Bezug auf Qualitätskriterien für Schulen:
Das drei-Ringe-Modell von Renzulli bezieht sich auf hochbegabtes Verhalten und nicht auf hochbegabte Personen. Dieses Verhalten ist nicht stabil im Gegensatz zur hohen Intelligenz und es zeige sich bei bestimmten Personen zu bestimmten Zeiten unter bestimmten Bedingungen. (vgl. Brunner et al. 2005, S. 11)
Das Modell der „Multiplen Intelligenzen“ von Gardner weist auf verschiedene Begabungsbereiche hin, auf die die Förderung unterschiedlich ausgerichtet ist.
Das Münchner (Hoch-)Begabungsmodell richtet sich an alle Schüler*innen und weist auf die personen- und umweltbedingen Merkmale hin, die das Verhalten beeinflussen. Es eignet sich im schulischen Kontext zur Beratung, wenn ein Kind eine nach seinem Potential erwartbare Leistung nicht zeigen kann, in dem die drei beeinflussenden Bereiche (Begabungsfaktoren, Persönlichkeits- und Umweltmerkmale) analysiert werden.
„Somit umfassen diese drei Modelle die Grundpfeiler der Qualitätskriterien, nämlich einen dynamischen Begabungsbegriff, die bewusste Beobachtung von begabtem Verhalten, die Förderung verschiedener Begabungsbereiche, ein Bekenntnis zur Leistung und die vielen verschiedenen Faktoren, die Menschen in ihrem Verhalten beeinflussen und deshalb in der Beratung besonderer Berücksichtigung bedürfen.“ (Friedl 2011, S. 116)
Literatur:
- Agostini, E., Schratz, M. & Risse, E. (2018) Hamburg: AOL-Verlag.
- Altrichter, H., Posch, P., Spann, H. (2018): Lehrerinnen erforschen ihren Unterricht. Julius Klinkhardt, Bad Heilbrunn.
- BMBWF Grundsatzerlass zur Begabungs- und Begabtenförderung, Rundschreiben Nr. 25/2017
- Braunsteiner, M.-L., Fischer, C., Prengel, A., & Wohlhart, D. (2019) Erfolgreich lernen und unterrichten in Klassen mit hoher Heterogenität. In: Breit, S., Eder, F., Krainer, K., Schreiner, C., Seel, A. & Spiel, C.: Nationaler Bildungsbericht Österreich 2018. Band 2.Fokussierte Analysen und Zukunftsperspektiven für das Bildungswesen. Graz: Leykam Buchverlag.
- Brunner, E., Gyseler, D. & Lienhard, P. (2005): Hochbegabung – (k)ein Problem? Handbuch zur interdisziplinären Begabungs- und Begabtenförderung. Zug: Klett und Palmer.
- Buhren, C. G. (2013): Kollegiale Hospitation. In: Huber. S.G. (Hrsg.): Handbuch Führungskräfteentwicklung. Grundlagen und Handreichungen zur Qualifizierung und Personalentwicklung im Schulsystem. Kronach: Carl Link Verlag.
- Elliot, J.: (1991) Action Research for Educational Change. Bristol: Open University Press.
- Friedl, S. (2010). Qualitätskriterien und Empfehlungen zur Implementierung eines Gütesiegels für Schulen mit Begabungs- und Begabtenförderung. Master-Thesis zur Erlangung des akademischen Grades Master of Science. Donau-Universität Krems.
- Frotschnig, C., Leimstättner, B., Schönfeldinger, A., Schrammel, S. , Taschler, B. (2017): Schulübergreifende Kollegiale Hospitation. In: ph publico. Impulse aus Wissenschaft, Forschung, pädagogischer Praxis 12. Eisenstadt: Weber Verlag in Verlagsgemeinschaft mit der Pädagogischen Hochschule Burgenland.
- Hattie, J. (2015) Lernen sichtbar machen. 3. Auflage. Baltmannsweiler: Schneiderverlag Hohengehren.
- Heller, K. u.a. (2001): Hochbegabung im Kindes- und Jugendalter; Göttingen: Hogrefe.
- Müller-Oppliger, V., Weigand, G. (2021) (Hrsg.). Handbuch Begabung. Weinheim: Beltz.
- Oswald, F., Weilguny, W.M. (2005) Schulentwicklung durch Begabungs- und Begabtenförderung. Österreichisches Zentrum für Begabtenförderung und Begabungsforschung. Impulse zu einer begabungsfreundlichen Lernkultur. Salzburg.
- Samhaber, E. (2012). In: news&science. Begabtenförderung und Begabungsforschung. Nr. 32. Ausgabe 3.
- Schratz, M., Schwarz, J.F. & Westfall-Greiter, T. (2012). Lernen als bildende Erfahrung. Vignetten in der Praxisforschung. Innsbruck: Studienverlag.
- Sternberg, R. J. (2005): A pentagonal theory of giftedness, in: Sternberg, R. J./Davidson, J. E. (Hrsg.): Conceptions of Giftedness, New York: Cambridge University Press.
- Vock, M. (2011). Akzeleration und Enrichment – Was sagt die empirische Forschung? In: Dokumentation: 15 Jahre Beratungsstelle besondere Begabungen (BbB) Besondere Begabungen entdecken und fördern – Impulse für Unterricht und Schule. Beratungsstelle besondere Begabungen, Hamburg.
- Wolf, W. (Hrsg). (2009). Lehrplan der Volksschule mit Anmerkungen und Ergänzungen. Graz: Leykam Buchverlag.